2.
Akt, I. Szene
Der
Handlanger und Gustavo stehen auf dem Platz unter dem königlichen
Verkündigungsbalkon; der Handlanger wirkt nervös, Gustavo trägt
eine rote Samtrobe und eine Federboa, er wirkt gelangweilt. Zögerlich
gesellen sich erste Ausläufer des Hofstaats zu den beiden. Es ist
der 24. Dezember, kurz vor fünf.
HANDLANGER
(von einem Fuß auf den anderen tretend): Wo ist sie, wo ist sie,
wo ist sie …
GUSTAVO:
Reg dich ab, sie wird schon kommen. Und wenn sies nicht tut, wäre
auch keinem geschadet …
HANDLANGER
(wirft Gustavo einen düsteren Blick unter zusammengezogenen
Augenbrauen zu): Du bist dir darüber bewusst, dass dies mein
Job ist, Gustavo, ich bin dafür zuständig, alles in geordneten
Bahnen verlaufen zu lassen, ich …
GUSTAVO
(verdreht die Augen, murmelt): Jetzt geht das wieder los.
Sie
sehen sich für einen Moment angespannt in die Augen, der Handlanger
setzt soeben zum sprechen an, da geht ein kleiner Tumult durch die
dürftige Menschenmenge.
RITTER:
Ich glaube, sie kommt.
HOFDAME
I: Wurde aber auch Zeit. Mein Puder friert bereits an meinem
Gesicht fest.
HOFDAME
II: Das macht auch keinen Unterschied mehr …
HOFDAME
I: … was?
HOFDAME
II (holt tief Luft, macht unbestimmte Handgeste und setzt zu einer
ohne Zweifel lang geplanten und mindestens ebenso lang
zurückgehaltenen Rede an, ehe sie unterbrochen wird):
Pompöses
Trompetendröhnen, untermalt vom subtilen Stöhnen aller Anwesenden
sowie dem etwas weniger subtilen Stöhnen des Hofmarschalls und
seiner Geliebten, die, unweit des Platzes, in einem billigen
Tavernenzimmer wilden Sex haben, die königlichen Weihnachtsgrüße
vergessen haben und dafür in Kürze erst von der Gattin des
Hofmarschalls und, ein wenig später, vom sich dabei äußerst unwohl
fühlenden Handlanger zur Rede gestellt werden.
MEGER
VOHN: Volk – DIE KÖNIGIN!
GUSTAVO
(leise zum Handlanger): Wie lange er das wohl einstudiert hat.
Volk:
seufzt. Vereinzeltes Klatschen, gepaart vom demonstrativen Blick auf
die Taschenuhr, die zwar eventuell noch nicht erfunden war, aber der
Geste des demonstrativ-auf-die-Uhr-schauens sicherlich nur um ein
paar Jahrhunderte dicht auf den Fersen folgte.
KÖNIGIN
(schielt unauffällig auf einen Zettel, den sie geschickt in ihrem
Muff versteckt hat): Holdes Volk! Wie auch im letzten Jahr
wollen wir uns zusammentun und ins Dorf hinabsteigen, dem armen Volk
unseren guten Willen und unsere Nächstenliebe zeigen, das
Weihnachtsfest gebührlich zelebrieren und …
HANDLANGER
(formt stumm die Worte mit ihr): … frohen Mut verbreiten …
GUSTAVO:
Ach Gottchen.
HANDLANGER
(lächelnd, den Blick auf die Königin gerichtet): Halt den Rand,
Schatz.
Die
Königin schweift aus. Das Volk zittert ergeben und verflucht sich in
Gedanken dafür, jemals auf die blödsinnige Idee verfallen zu sein,
am Hof leben zu wollen. Schließlich endet die Königin und Stille
legt sich über die Menge, nur unterbrochen vom triumphalen Schrei
der Geliebten des Hofmarschalls, die der Situation scheinbar mehr
abgewinnen kann als die meisten anderen.
Der
Handlanger wirft dem Volk einen auffordernden Blick zu und klatscht
lautlos in die Hände. Zögerlich fällt das Volk ein, der leicht ins
Säuerliche verrutschte Blick der Königin glättet sich soweit wie
möglich. Gebieterisch hebt sie den Arm, um das Volk zum Schweigen zu
bringen; der Erfolg kommt prompt. Sie blickt leicht irritiert, ruft
aber dennoch zum Aufbruch.
KÖNIGIN:
So sei es denn, lasst uns gehen, treue Untergebene, lasst uns
unseren Großmut zeigen!
Das
Trompetendröhnen setzt einen Tick zu früh ein und schneidet der
Königin die letzten Silben ab, der Zug setzt sich in Bewegung.
Vereinzeltes Kichern ist zu hören, der Handlanger fasst sich an die
Nasenwurzel. Gustavo wirft seine Boa über die Schulter und zieht den
Handlanger am Arm hinter sich her. Der Hofstaat durchschreitet
gemächlich das Hoftor, weit unter ihnen wird das Dorf sichtbar.
2.
Akt, II. Szene
Der
Marktplatz im Dorf. Halb gefrorener Matsch mit Exkrementen türmt
sich am Straßenrand; vereinzelte Fackeln erhellen die Berge
malerisch. Fachwerkhäuser lehnen sich wohlig mit den Schultern
eineinander und beteuern einander unter vertrauenserweckendem Knarzen
ihre Zuneigung. Aus einem Brunnen in der Mitte des Platzes kommt
dumpfes Klopfen, wird lauter und hektischer und erstirbt schließlich.
Im Anschluss ein entferntes Rülpsen.
Menschen
ziehen über den Platz, mit Säcken auf dem Rücken. Einige ziehen
Karren hinter sich her. Vereinzelte Hunde streunen, ein paar Bettler
sitzen in der Scheiße am Wegesrand und verfluchen die Welt
erstaunlich eloquent. Der Zierfischer reibt seine Hände aneinander
und räuspert sich.
ZIERFISCHER:
Zierfische!
Köstliche Zierfische!
PASSANT
(bleibt stehen): Was?
Ein
paar dicke Frauen in langen Kleidern und ein kleiner, dünner Mann
treten aus einem der Fachwerkhäuser und werfen die Tür hinter sich
ins Schloss. Dabei fällt ein Holzbalken aus dem Fachwerk und
erschlägt im Hintergrund eine Ratte. Katzen stürzen sich auf sie,
Blut spritzt.
DICKE
FRAU I: Wann
die blöde Ische wohl dieses Jahr kommt.
DICKE
FRAU II: Von
mir bekommt sich nichts!
KLEINER,
DÜNNER MANN: Haben
wir an die Kartoffeln gedacht?
DICKE
FRAU II (stöhnt): Haben
wir.
KLEINER,
DÜNNER MANN (entrüstet): Schrei
mich nicht so an!
DICKE
FRAU II: Hab
ich doch gar nicht.
KLEINER,
DÜNNER MANN: Hast
du wohl!
DICKE
FRAU I (verdreht die Augen, schweigt und tritt beiläufig einen Hund)
Die
drei verschwinden im Getümmel. Am Bühnenrand werden wir ferner
Fackeln gewahr, die die fernizischen Hügel hinabwackeln und die
Karawane der Königin symbolisieren. Die Menge auf dem Marktplatz
formiert sich und verfällt in eine spontane Tanznummer, wobei sie
etwas wie „Oh nein, da kommt sie wieder, versteckt eure
Habseligkeiten oder besser noch euch selbst; ach was, zündet das
Dorf an und sagt der Versicherung, es war ein Unfall“ singen,
sinngemäß natürlich; bei Gelegenheit Hans Zimmer anrufen. Am
anderen Bühnenrand flackert ein kleines Licht auf und gewährt uns
einen kurzen Blick auf eine düstere Gestalt in einem langen Umhang,
der mit düsteren Blicken um sich wirft und leise murmelt. Dann
erlischt das Licht und die Karawane erreicht den Dorfeingang.
HANDLANGER
(eilt zur Königin und schüttelt sie zaghaft): Eure
Majestät!
KÖNIGIN
(schreckt hoch. Zu den ständigen Falten gesellen sich linksseitig
faltige Abrücke ihrer Stehkrause): Hmpf?
HANDLANGER:
Wir
sind im Dorf?
KÖNIGIN
(wird langsam wach): Wo?
HANDLANGER:
Im
Dorf!
KÖNIGIN
(Erkenntnis kriecht schwerfällig über ihr Gesicht und macht
daraufhin langsam durchdringendem Unwillen Platz, ehe ihr die zu
erwartenden Geschenke der Dorfbewohner einfallen): Man
kündige uns an!
GUSTAVO
(leise): Als
ob das hier irgendwem entgangen wäre.
HANDLANGER
(lächelt angestrengt und schweigt, gibt aber den königlichen
Trompetern ein Zeichen. Sogleich erzittert die gefrorene Scheiße
unter dem Tusch, aus dem Inneren der Dorfmauern hört man ein leises
'Autsch!' und ein geflüstertes 'Stell dich nicht so an!' als die
Tänzer und Sänger eilig ihre Nummer abbrechen und versuchen, eins
mit den Fachwerkhäusern zu werden.)
Die
königliche Karawane schickt sich an, in das Dorf zu reiten, langsam
erstirbt das Licht auf der Bühne. Dabei sehen wir wieder das
Flackern am anderen Bühnenrand, die düster beumhangte Figur
verfolgt die Königin mit den Augen, dreht sich schließlich um und
entfernt sich in großen Schritten in die andere Richtung. Vorhang.
3.
Akt, I. Szene
Ein
vollgestopfter Raum. Regale bedecken die Wände, darin Wurzeln und
Töpfe, getrocknete Frösche, Schweineohren, Gläser gefüllt mit in
Flüssigkeit eingelegten, nicht näher zu identifizierenden Tieren.
Mittig schwebt ein großer Kessel über einem leise prasselnden
Feuer, gelegentlich sieht man eine dickflüssige Blase daraus
hervorbrechen. Daneben ein Holztisch mit Stühlen, darauf einige
nackte, hungernde Kinder, die gelangweilt Dreck unter ihren
Fingernägeln hervorpulen und sich bis auf kurze, giftige
Gesprächsfetzen weitgehend ignorieren.
NACKTES,
HUNGERNDES KIND I (nach einer längeren Pause, an Kind neben ihm):
Und
was ist mit Shakespeare?
NACKTES,
HUNGERNDES KIND II (ohne den Blick zu heben): Pah.
Total ausgelutscht. Der wirds nie zu was bringen. Wollte ich gar
nicht.
NACKTES,
HUNGERNDES KIND I (nickt, hält kurz inne, dann leise): Hätten
sie dich denn genommen?
Alle
nackten, hungernden Kinder werden mit einem mal unauffällig sehr
still. Selbst die getrockneten Säugetiere in den Regalen scheinen
sich unmerklich nach vorne zu beugen.
NACKTES,
HUNGERNDES KIND II (widerwillig): …
nein, aber …
Alle
lehnen sich gleichzeitig wieder zurück und ergehen sich in Gemurmel.
Das Feuer scheint wieder lauter zu prasseln.
NACKTES,
HUNGERNDES KIND III (nach ein paar Minuten Pause, in denen alle
schweigend am Tisch gesessen und sich in würdevoller Mimik geübt
haben): Wann
wollte der Idiot nochmal zurückkommen? Und hieß es nicht, für
unser leibliches Wohl sei gesorgt?
Zustimmendes
Gemurmel erhebt sich. Ehe sich jedoch ernsthaft echauffiert werden
kann wird die Tür aufgerissen und eine düstere Gestalt in langem,
dunklem Umhang steht drohend im Raum, der Mantel weht ein wenig im
Wind, der Duft der Exkremente mischt sich mit dem beißenden Odeur
des Kessels (und der getrockneten Tiere). Sie schreitet in den Raum,
wirft die Tür hinter sich zu und zieht sich dramatisch die Kapuze
vom Kopf. Die nackten, hungernden Kinder schnappen unisono nach Luft
und fahren auf, einige von ihnen schlagen sich ihre knochigen Hände
vor den Mund. Das nackte, hungernde Kind rechts außen (V) blickt an
die Decke und schüttelt unmerklich den Kopf)
NACKTES,
HUNGERNDES KIND II: Er
ist so jung!
NACKTES,
HUNGERNDES KIND I: Beinahe
noch ein Kind!
NACKTES,
HUNGERNDES KIND IV: Kaum
zu glauben, dass er bereits ein Zauberer ist!
NACKTES,
HUNGERNDES KIND II: Man
gebe uns zu essen!
NACKTES,
HUNGERNDES KIND V: So
ein Blödsinn hier …
BEUMHANGTE
FIGUR: Ihr
macht das sehr gut. Method Acting, richtig? Ich kenne mich da ja
nicht aus. Und ich bin nur Zauberlehrling, aber vielen Dank.
NACKTES,
HUNGERNDES KIND III: Im
Inserat stand, es gäbe ein Buffet.
Die
übrigen Kinder nicken anklagend.
ZAUBERLEHRLING
(ein wenig unwillig; seiner Statur nach zu schließen ist das Wort
„Buffet“ keines, das es in seinen aktiven Wortschatz geschafft
hat): Später
… wir haben … zu tun. Sie ist angekommen.
Die
Kinder (beim aufmerksamen Zuschauer schleicht sich langsam die
Vermutung ein, dass es sich dabei nicht wirklich
um Kinder handelt) rutschen unangenehm auf ihren Stühlen hin und
her. Der Zauberlehrling durchquert den Raum eilig, nimmt einige Dinge
aus seinen Regalen und steckt sie in die zahllosen Innentaschen
seines ohne Zweifel teuren Mantels. Dann wendet er sich einer kleinen
Kiste zu, die auf dem obersten Regalbrett steht und unheilvoll
wackelt. Gelegentlich springt sie ein wenig, beruhigt sich jedoch in
der Regel daraufhin schnell wieder. Der Zauberlehrling betrachtet sie
einen Moment nachdenklich, dann nimmt er sie entschlossen an sich und
öffnet sie. Ein dumpfer Schein quillt aus ihr und legt sich über
sein kantiges Gesicht. Dann taucht er seinen rechten Arm mit
Nachdruck in die Kiste und zieht ein faustgroßes Wesen daraus
hervor. Wir erhaschen einen winzigen Blick darauf, einige der
nackten, hungernden Kinder schlagen sich erneut Hände vor den Mund.
Nicht einmal Nummer V verdreht die Augen. Dann ist das Wesen im
Mantel des Zauberlehrlings verschwunden, das Licht erstirbt langsam.
Wir hören Wind um die Häuserfront kratzen. Der Kessel ist das
Letzte, das noch zu erkennen ist, dann wird es dunkel.
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