Mittwoch, 24. Dezember 2014

Des Drärchens zweiter Teil

2. Akt, I. Szene
Der Handlanger und Gustavo stehen auf dem Platz unter dem königlichen Verkündigungsbalkon; der Handlanger wirkt nervös, Gustavo trägt eine rote Samtrobe und eine Federboa, er wirkt gelangweilt. Zögerlich gesellen sich erste Ausläufer des Hofstaats zu den beiden. Es ist der 24. Dezember, kurz vor fünf.

HANDLANGER (von einem Fuß auf den anderen tretend): Wo ist sie, wo ist sie, wo ist sie …
GUSTAVO: Reg dich ab, sie wird schon kommen. Und wenn sies nicht tut, wäre auch keinem geschadet …
HANDLANGER (wirft Gustavo einen düsteren Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen zu): Du bist dir darüber bewusst, dass dies mein Job ist, Gustavo, ich bin dafür zuständig, alles in geordneten Bahnen verlaufen zu lassen, ich …
GUSTAVO (verdreht die Augen, murmelt): Jetzt geht das wieder los.

Sie sehen sich für einen Moment angespannt in die Augen, der Handlanger setzt soeben zum sprechen an, da geht ein kleiner Tumult durch die dürftige Menschenmenge.

RITTER: Ich glaube, sie kommt.
HOFDAME I: Wurde aber auch Zeit. Mein Puder friert bereits an meinem Gesicht fest.
HOFDAME II: Das macht auch keinen Unterschied mehr …
HOFDAME I: … was?
HOFDAME II (holt tief Luft, macht unbestimmte Handgeste und setzt zu einer ohne Zweifel lang geplanten und mindestens ebenso lang zurückgehaltenen Rede an, ehe sie unterbrochen wird):
Pompöses Trompetendröhnen, untermalt vom subtilen Stöhnen aller Anwesenden sowie dem etwas weniger subtilen Stöhnen des Hofmarschalls und seiner Geliebten, die, unweit des Platzes, in einem billigen Tavernenzimmer wilden Sex haben, die königlichen Weihnachtsgrüße vergessen haben und dafür in Kürze erst von der Gattin des Hofmarschalls und, ein wenig später, vom sich dabei äußerst unwohl fühlenden Handlanger zur Rede gestellt werden.

MEGER VOHN: Volk – DIE KÖNIGIN!
GUSTAVO (leise zum Handlanger): Wie lange er das wohl einstudiert hat.
Volk: seufzt. Vereinzeltes Klatschen, gepaart vom demonstrativen Blick auf die Taschenuhr, die zwar eventuell noch nicht erfunden war, aber der Geste des demonstrativ-auf-die-Uhr-schauens sicherlich nur um ein paar Jahrhunderte dicht auf den Fersen folgte.

KÖNIGIN (schielt unauffällig auf einen Zettel, den sie geschickt in ihrem Muff versteckt hat): Holdes Volk! Wie auch im letzten Jahr wollen wir uns zusammentun und ins Dorf hinabsteigen, dem armen Volk unseren guten Willen und unsere Nächstenliebe zeigen, das Weihnachtsfest gebührlich zelebrieren und …
HANDLANGER (formt stumm die Worte mit ihr): … frohen Mut verbreiten …
GUSTAVO: Ach Gottchen.
HANDLANGER (lächelnd, den Blick auf die Königin gerichtet): Halt den Rand, Schatz.

Die Königin schweift aus. Das Volk zittert ergeben und verflucht sich in Gedanken dafür, jemals auf die blödsinnige Idee verfallen zu sein, am Hof leben zu wollen. Schließlich endet die Königin und Stille legt sich über die Menge, nur unterbrochen vom triumphalen Schrei der Geliebten des Hofmarschalls, die der Situation scheinbar mehr abgewinnen kann als die meisten anderen.
Der Handlanger wirft dem Volk einen auffordernden Blick zu und klatscht lautlos in die Hände. Zögerlich fällt das Volk ein, der leicht ins Säuerliche verrutschte Blick der Königin glättet sich soweit wie möglich. Gebieterisch hebt sie den Arm, um das Volk zum Schweigen zu bringen; der Erfolg kommt prompt. Sie blickt leicht irritiert, ruft aber dennoch zum Aufbruch.

KÖNIGIN: So sei es denn, lasst uns gehen, treue Untergebene, lasst uns unseren Großmut zeigen!

Das Trompetendröhnen setzt einen Tick zu früh ein und schneidet der Königin die letzten Silben ab, der Zug setzt sich in Bewegung. Vereinzeltes Kichern ist zu hören, der Handlanger fasst sich an die Nasenwurzel. Gustavo wirft seine Boa über die Schulter und zieht den Handlanger am Arm hinter sich her. Der Hofstaat durchschreitet gemächlich das Hoftor, weit unter ihnen wird das Dorf sichtbar.

2. Akt, II. Szene
Der Marktplatz im Dorf. Halb gefrorener Matsch mit Exkrementen türmt sich am Straßenrand; vereinzelte Fackeln erhellen die Berge malerisch. Fachwerkhäuser lehnen sich wohlig mit den Schultern eineinander und beteuern einander unter vertrauenserweckendem Knarzen ihre Zuneigung. Aus einem Brunnen in der Mitte des Platzes kommt dumpfes Klopfen, wird lauter und hektischer und erstirbt schließlich. Im Anschluss ein entferntes Rülpsen.
Menschen ziehen über den Platz, mit Säcken auf dem Rücken. Einige ziehen Karren hinter sich her. Vereinzelte Hunde streunen, ein paar Bettler sitzen in der Scheiße am Wegesrand und verfluchen die Welt erstaunlich eloquent. Der Zierfischer reibt seine Hände aneinander und räuspert sich.

ZIERFISCHER: Zierfische! Köstliche Zierfische!
PASSANT (bleibt stehen): Was?

Ein paar dicke Frauen in langen Kleidern und ein kleiner, dünner Mann treten aus einem der Fachwerkhäuser und werfen die Tür hinter sich ins Schloss. Dabei fällt ein Holzbalken aus dem Fachwerk und erschlägt im Hintergrund eine Ratte. Katzen stürzen sich auf sie, Blut spritzt.

DICKE FRAU I: Wann die blöde Ische wohl dieses Jahr kommt.
DICKE FRAU II: Von mir bekommt sich nichts!
KLEINER, DÜNNER MANN: Haben wir an die Kartoffeln gedacht?
DICKE FRAU II (stöhnt): Haben wir.
KLEINER, DÜNNER MANN (entrüstet): Schrei mich nicht so an!
DICKE FRAU II: Hab ich doch gar nicht.
KLEINER, DÜNNER MANN: Hast du wohl!
DICKE FRAU I (verdreht die Augen, schweigt und tritt beiläufig einen Hund)

Die drei verschwinden im Getümmel. Am Bühnenrand werden wir ferner Fackeln gewahr, die die fernizischen Hügel hinabwackeln und die Karawane der Königin symbolisieren. Die Menge auf dem Marktplatz formiert sich und verfällt in eine spontane Tanznummer, wobei sie etwas wie „Oh nein, da kommt sie wieder, versteckt eure Habseligkeiten oder besser noch euch selbst; ach was, zündet das Dorf an und sagt der Versicherung, es war ein Unfall“ singen, sinngemäß natürlich; bei Gelegenheit Hans Zimmer anrufen. Am anderen Bühnenrand flackert ein kleines Licht auf und gewährt uns einen kurzen Blick auf eine düstere Gestalt in einem langen Umhang, der mit düsteren Blicken um sich wirft und leise murmelt. Dann erlischt das Licht und die Karawane erreicht den Dorfeingang.

HANDLANGER (eilt zur Königin und schüttelt sie zaghaft): Eure Majestät!
KÖNIGIN (schreckt hoch. Zu den ständigen Falten gesellen sich linksseitig faltige Abrücke ihrer Stehkrause): Hmpf?
HANDLANGER: Wir sind im Dorf?
KÖNIGIN (wird langsam wach): Wo?
HANDLANGER: Im Dorf!
KÖNIGIN (Erkenntnis kriecht schwerfällig über ihr Gesicht und macht daraufhin langsam durchdringendem Unwillen Platz, ehe ihr die zu erwartenden Geschenke der Dorfbewohner einfallen): Man kündige uns an!
GUSTAVO (leise): Als ob das hier irgendwem entgangen wäre.
HANDLANGER (lächelt angestrengt und schweigt, gibt aber den königlichen Trompetern ein Zeichen. Sogleich erzittert die gefrorene Scheiße unter dem Tusch, aus dem Inneren der Dorfmauern hört man ein leises 'Autsch!' und ein geflüstertes 'Stell dich nicht so an!' als die Tänzer und Sänger eilig ihre Nummer abbrechen und versuchen, eins mit den Fachwerkhäusern zu werden.)

Die königliche Karawane schickt sich an, in das Dorf zu reiten, langsam erstirbt das Licht auf der Bühne. Dabei sehen wir wieder das Flackern am anderen Bühnenrand, die düster beumhangte Figur verfolgt die Königin mit den Augen, dreht sich schließlich um und entfernt sich in großen Schritten in die andere Richtung. Vorhang.


3. Akt, I. Szene
Ein vollgestopfter Raum. Regale bedecken die Wände, darin Wurzeln und Töpfe, getrocknete Frösche, Schweineohren, Gläser gefüllt mit in Flüssigkeit eingelegten, nicht näher zu identifizierenden Tieren. Mittig schwebt ein großer Kessel über einem leise prasselnden Feuer, gelegentlich sieht man eine dickflüssige Blase daraus hervorbrechen. Daneben ein Holztisch mit Stühlen, darauf einige nackte, hungernde Kinder, die gelangweilt Dreck unter ihren Fingernägeln hervorpulen und sich bis auf kurze, giftige Gesprächsfetzen weitgehend ignorieren.

NACKTES, HUNGERNDES KIND I (nach einer längeren Pause, an Kind neben ihm): Und was ist mit Shakespeare?
NACKTES, HUNGERNDES KIND II (ohne den Blick zu heben): Pah. Total ausgelutscht. Der wirds nie zu was bringen. Wollte ich gar nicht.
NACKTES, HUNGERNDES KIND I (nickt, hält kurz inne, dann leise): Hätten sie dich denn genommen?
Alle nackten, hungernden Kinder werden mit einem mal unauffällig sehr still. Selbst die getrockneten Säugetiere in den Regalen scheinen sich unmerklich nach vorne zu beugen.
NACKTES, HUNGERNDES KIND II (widerwillig): … nein, aber …
Alle lehnen sich gleichzeitig wieder zurück und ergehen sich in Gemurmel. Das Feuer scheint wieder lauter zu prasseln.
NACKTES, HUNGERNDES KIND III (nach ein paar Minuten Pause, in denen alle schweigend am Tisch gesessen und sich in würdevoller Mimik geübt haben): Wann wollte der Idiot nochmal zurückkommen? Und hieß es nicht, für unser leibliches Wohl sei gesorgt?
Zustimmendes Gemurmel erhebt sich. Ehe sich jedoch ernsthaft echauffiert werden kann wird die Tür aufgerissen und eine düstere Gestalt in langem, dunklem Umhang steht drohend im Raum, der Mantel weht ein wenig im Wind, der Duft der Exkremente mischt sich mit dem beißenden Odeur des Kessels (und der getrockneten Tiere). Sie schreitet in den Raum, wirft die Tür hinter sich zu und zieht sich dramatisch die Kapuze vom Kopf. Die nackten, hungernden Kinder schnappen unisono nach Luft und fahren auf, einige von ihnen schlagen sich ihre knochigen Hände vor den Mund. Das nackte, hungernde Kind rechts außen (V) blickt an die Decke und schüttelt unmerklich den Kopf)
NACKTES, HUNGERNDES KIND II: Er ist so jung!
NACKTES, HUNGERNDES KIND I: Beinahe noch ein Kind!
NACKTES, HUNGERNDES KIND IV: Kaum zu glauben, dass er bereits ein Zauberer ist!
NACKTES, HUNGERNDES KIND II: Man gebe uns zu essen!
NACKTES, HUNGERNDES KIND V: So ein Blödsinn hier …
BEUMHANGTE FIGUR: Ihr macht das sehr gut. Method Acting, richtig? Ich kenne mich da ja nicht aus. Und ich bin nur Zauberlehrling, aber vielen Dank.
NACKTES, HUNGERNDES KIND III: Im Inserat stand, es gäbe ein Buffet.
Die übrigen Kinder nicken anklagend.
ZAUBERLEHRLING (ein wenig unwillig; seiner Statur nach zu schließen ist das Wort „Buffet“ keines, das es in seinen aktiven Wortschatz geschafft hat): Später … wir haben … zu tun. Sie ist angekommen.

Die Kinder (beim aufmerksamen Zuschauer schleicht sich langsam die Vermutung ein, dass es sich dabei nicht wirklich um Kinder handelt) rutschen unangenehm auf ihren Stühlen hin und her. Der Zauberlehrling durchquert den Raum eilig, nimmt einige Dinge aus seinen Regalen und steckt sie in die zahllosen Innentaschen seines ohne Zweifel teuren Mantels. Dann wendet er sich einer kleinen Kiste zu, die auf dem obersten Regalbrett steht und unheilvoll wackelt. Gelegentlich springt sie ein wenig, beruhigt sich jedoch in der Regel daraufhin schnell wieder. Der Zauberlehrling betrachtet sie einen Moment nachdenklich, dann nimmt er sie entschlossen an sich und öffnet sie. Ein dumpfer Schein quillt aus ihr und legt sich über sein kantiges Gesicht. Dann taucht er seinen rechten Arm mit Nachdruck in die Kiste und zieht ein faustgroßes Wesen daraus hervor. Wir erhaschen einen winzigen Blick darauf, einige der nackten, hungernden Kinder schlagen sich erneut Hände vor den Mund. Nicht einmal Nummer V verdreht die Augen. Dann ist das Wesen im Mantel des Zauberlehrlings verschwunden, das Licht erstirbt langsam. Wir hören Wind um die Häuserfront kratzen. Der Kessel ist das Letzte, das noch zu erkennen ist, dann wird es dunkel.

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